Hallo, ich bin Aliou Ndiaye, 23 Jahre alt und komme aus einer muslimischen Serer-Familie. (Die Serer sind nach den Wolof und Peul die drittgrößte Volksgruppe Senegals). Ich hatte nie die Gelegenheit, bei meiner Familie zu leben. Ich wurde von meiner Tante aufgezogen und habe meinen Vater nie kennengelernt. Meine Mutter hat nach dem Tod meines Vaters einen anderen Mann geheiratet. Ich wurde als kleines Kind in eine Daara (Koranschule) in der großen Stadt Touba gebracht. (Touba ist eine Pilgermetropole für Muslime im zentralen Westen des westafrikanischen Staates Senegal. Touba ist mit einer dreiviertel Million Einwohner die zweitgrößte Stadt des Landes). Ich weiß nicht, wie alt ich zu der Zeit war. In der Daara bekam ich Schläge, wenn ich meine Lektion nicht richtig gelernt hatte oder wenn ich nicht die geforderte Summe vom täglichen Betteln mitgebracht habe. Deshalb bin ich von dort geflohen und habe von da an im Alter von 4-5 Jahren auf der Straße gelebt.
Auf der Straße traf ich einige Talibes (Bettelkoranschüler), die ebenfalls aus ihren Daaras geflohen waren. Wir haben eine Gruppe gebildet und waren dann jeden Tag zusammen. Wir haben gebettelt und gestohlen, um etwas zum Essen zu haben. Das Leben auf der Straße ist ein Leben mit ständig wechselndem Aufenthalt, ohne Sicherheit. Manchmal schlief ich unter Zeitungsseiten neben dem Marktplatz, manchmal am Meer. Die älteren Kinder die gemeinsam mit mir auf der Straße lebten, forderten manchmal mein Geld mit Gewalt ein. Ich fing an Zigaretten zu rauchen und "Guinz" zu konsumieren. (Guinz stellt man aus Verdünner her. Davon wird man schnell „betrunken“.) Irgendwann verließ ich Touba und kam nach Dakar, weil ich Angst hatte, dass man mich finden und zurück in die Daara bringen würde.
In Dakar lernte ich ein Zentrum namens Samusocial Senegal kennen. Mitarbeiter von diesem Zentrum kamen auf die Straße, um den Talibe Milch zu geben und medizinische Erste Hilfe zu leisten. Manchmal nahmen sie auch Talibes mit in ihr Zentrum. Sie fragten auch mich, ob ich mit ihnen kommen und die Straße verlassen wolle. Ich sagte „Ja“, das war im Jahr 2007. Dies Zentrum von Samusocial Senegal hat das Ziel, Kinder von der Straße zu holen und sie nach Hause zu bringen. Ich blieb ca. zwei Monate in diesem Zentrum, bis die Mitarbeiter mir sagten, dass sie mich nach Hause bringen wollen. Nach langem Überlegen stimmte ich dem schließlich zu. Da wir in Touba meine Tante nicht finden konnten, kehrten wir nach Dakar zurück. Nach ein paar Tagen fragten sie mich, ob ich in ein anderes Zentrum gehen wolle, um dort eine Schule zu besuchen und einen Beruf zu erlernen. Ich ließ mich darauf ein und so kam ich Anfang 2008, im Alter von 5 Jahren, zu Perspective Senegal (PS).
Ich ging in den ersten 1,5 Jahren in die Alphabetisierungsklasse im PS-Zentrum. 2009 durfte ich in der katholischen Privatschule „Saint Martin de Porres“ in Keur Massar mit der 2.Klasse starten. Ich wurde als Klassenbester eingestuft. 2010 zogen wir mit dem Zentrum nach Deni Biram Ndao um. In der öffentlichen Grundschule dort habe ich meinen ersten Schulabschluss erworben. Anschließend besuchte ich die Mittelschule und das Gymnasium. 2022 habe ich dort mein Abitur mit der Note "gut" erhalten. Bei Perspective Senegal wurde ich wirklich verwandelt, ich bin nicht mehr der, der ich war. Ich habe dort eine neue Heimat, Orientierung und ein besseres Leben gefunden. Heute lebe ich ohne Betteln, Stehlen und Drogenkonsum. Ich genieße Schutz und Bildung und ich bin stolz darauf, auch weil ich Teil einer neuen Familie bin, die mir hilft und für mich da ist. In dem Zentrum von Perspective Senegal habe ich die Liebe zum Lernen entdeckt. Deshalb studiere ich in der Uni von Saint-Louis MPI (Mathematische Physik und Informatik). Ich habe mich für diesen Studiengang entschieden, weil er mir dabei helfen wird, meinen Traum zu verwirklichen, ein Ingenieur im Bereich Energie oder Mechanik zu werden. Das Studium dauert 3 Jahre. Möglich wurde mein Studium durch das Patenschaftsprogramm von Perspective Senegal. Meine Paten finanzieren meine Unterkunft, die Studiengebühren, Transportkosten und Schulmaterial. Neben meinem Studium arbeite ich für meinen weiteren Lebensunterhalt. Mit Abschluss meines Studiums kann ich mir eine Existenz aufbauen, mit der ich meinen Lebensunterhalt finanzieren kann. Durch das Wissen, das ich in meinem Studium vermittelt bekomme, bin ich dann auch in der Lage, die Entwicklung meines Heimatlandes Senegal voranzubringen.